Einen Beitrag zur jüngeren Geschichte der Gemeinde Albig liefert Liesel Rodrian, geb. Michel. In einer Niederschrift schildert sie, wie sie das Ende des 2. Weltkrieges erlebte. Liesel Rodrian wurde 1925 geboren und ist somit eine wichtige Zeitzeugin der Orts- und Regionalgeschichte.
Immer schlimmer wurden die Fliegerangriffe der Amerikaner bei uns, hauptsächlich in den Städten. In Albig war man zwar immer in Ängsten und verbrachte viel Zeit im Luftschutzkeller, wenn wieder mal die Sirenen einen Fliegerangriff meldeten oder das dumpfe Geräusch der feindlichen Flieger über uns Unheil ankündigten.
In einer Nacht fiel eine Brandbombe in ein Bett im Haus Wagner-Zimmermann im Turnergäßchen. Auf den Hilferuf von Frau Zimmermann konnten mein Vater und ich noch rechtzeitig den Brand mit Sand löschen, der ja immer bereit stehen musste. Bis zum 2. Februar 1945 gab es nur tagsüber Maschinengewehrbeschuss auf einzelne Personen, die sich draußen im Feld oder auf den Straßen aufhielten. Deshalb wurden auch Splittergräben entlang der Pariser Chaussee gegraben, immer im Zickzack, damit man darin Schutz suchen konnte, wenn einzelne Flieger auftauchten und auf Passanten schossen.
Am 2. Februar mittags um 14 Uhr fielen zwei Bomben in der Hintergasse und zerstörten die Häuser Östreicher, Schimbold und (teilweise) Metzler. Dabei wurden Frau Schimbold, geb. Fuchs und Frau Schultheiß, geb. Östreicher getötet. Johann Östreicher, der tags zuvor verstorben war, wurde aus dem Sarg geschleudert. Mehrere Personen die sich nicht im Keller aufhielten, wurden dabei auch verletzt, weil sie im Hause Östreicher waren, um den Verstorbenen zu betrauern. Es waren dies die Schwester Lisa Östreicher, Frau Fuchs (Mutter von Frau Schimbold) und die damals 5-jährige Liesel Schroth (Enkelin von Frau Schultheiß). Liesel Schroth war verschüttet, wurde aber durch eine aus dem Schutt herausragende Hand von dem in unserm Haus einquartierten und schnell herbei eilenden Zahlmeister Karl Hasch entdeckt und ausgebuddelt. Die Verletzungen an Kopf und Bein waren gottlob nicht sehr tief. Die Narben sind aber noch heute sichtbar.
Das Alzeyer Krankenhaus war ausgebombt, so kamen die Verletzten ins Notlazarett in der Heil- und Pflegeanstalt. Das 5-jährige Lieselchen lag dort in einem großen Saal mit der alten Tante Lisa, der alten Frau Fuchs und vielen anderen Patienten. Das alles habe ich nicht miterlebt , da ich damals noch als Lehrling der ländlichen Hauswirtschaft auf einem Lehrbetrieb in der Altmark war. Dort war noch alles sehr friedlich. Da aber die Russen Berlin immer näher kamen, entschloss ich mich ungefähr am 20. Februar zur Heimreise mit dem Zug. 24 Stunden war ich unterwegs bis Mainz. Weil immer wieder feindliche Flieger über uns waren, musste der Lokomotivführer oft mit dem Zug zwischen Bahndämmen und Bäumen Deckung suchen und warten, denn die Flieger schossen mit Maschinengewehren auf alles was sich bewegte.
In Mainz gab es keinen Anschluss mehr nach Alzey, und da es zu gefährlich war, dort die Nacht zu verbringen, erwischte ich noch mit anderen Passagieren einen Zug nach Bodenheim. Dort verbrachten wir die Nacht im Wartesaal. Da hörten wir aus der Ferne schon den Kanonendonner von der Westfront. Am nächsten Morgen brachte mich dann ein Zug nach Alzey. Wegen der andauernden Fliegerangriffe auf Züge, lief ich entlang der Pariser Chaussee nach Albig. Zuhause saßen alle im Keller, denn es war wieder einmal Fliegeralarm.
Mein Vater, damals 52 Jahre alt, musste nicht mehr Soldat werden, doch er bekam den Befehl, den Volkssturm zu führen. Alle älteren Männer und auch Jugendliche aus Albig, die noch keine Soldaten waren, mussten sich für evtl. Einsätze bereit halten. Dieser Befehl kam dann auch im März, kurz bevor die feindlichen Truppen anrückten. Der Befehl lautete: Der Volkssturm muss über den Rhein, um dort Widerstand zu leisten !
Mein Vater erklärte schlichtweg: „Ich gehe nicht !“ Darauf hin riefen die Frauen auf der Straße: „Frau Michel läßt ihren Mann nicht gehen, und wir lassen unsere Männer auch nicht fort!“ Dieser Entschluss war gefährlich, denn wenn SS-Truppen auf dem Rückzug noch einmal aufgetaucht wären, hätte es mit Sicherheit Erschießungen gegeben. Aber es ging gut und in Albig kam bei Kriegsende niemand zu Schaden.
Immer näher kam der Kanonendonner, es wurden Orte in der Nähe genannt in denen die „Amis“ schon einmarschiert waren. Wir hielten uns Tag und Nacht fast nur noch im Keller auf. Eines nachts hörten wir fremde Geräusche auf der Straße. Beim Nachsehen entdeckten wir Leute mit Handwagen die unterwegs zur Turnhalle waren, wo inzwischen das Armeeverpflegungslager zur Räumung durch die Bevölkerung frei gegeben war. Allerhand begehrte Lebensmittel waren dort gelagert, auch Kaffee, Tee, Kakao und sonstige Raritäten, wie wir später erfuhren. Mein Vater erlaubte uns nicht, daran teilzunehmen. Dazu eine amüsante Begebenheit, die uns erzählt wurde. Wilhelm Mertens, ein alter Junggeselle, wollte auch an dem Segen teilhaben und lud einen großen Karton auf sein Fahrzeug. „Aber Mertens, das braucht Ihr doch nicht“ rief eine Frau. „Was Ihr brauchen könnt, brauch ich auch“, war die Antwort. Es waren Damenbinden.
Die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter die uns während des Krieges zugeteilt waren, wurden zum Kriegsende alle in ihre Heimat verfrachtet. Der Abschied der Russen war sehr schmerzlich, denn sie wussten wohl, was ihnen zuhause bevorstand. Jahre später erfuhren wir von einer Ukrainerin, dass die Heimkehrer entweder nach Sibirien verbannt oder sofort erschossen wurden.
Wir hatten 2 polnische Kriegsgefangene, 1 Holländer, 1 Slowaken, 1 Litauer, 1 Ukrainerin und 2 russische Gefangene. Letztere mussten jeden Abend ins „Russenlager“ zum übernachten gebracht werden. Dort wurden sie von 2 deutschen Soldaten bewacht. Das „Russenlager“ war das ehemalige Haus von Hannes Mann. Heute gehört das Anwesen den Familien Häfner und Heldt. Die übrigen Ausländer waren alle bei uns im Hof und im alten Fachwerkhaus untergebracht. Tagsüber waren die Russen wie alle frei bei der Arbeit und kamen zum Essen zu uns ins Haus. Nur war es ihnen nicht erlaubt mit Deutschen an einem Tisch zu essen. Bei uns brauchte keiner zu hungern. Milch, Kartoffeln, Gemüse und Obst produzierten wir selbst, Fleisch und Fett waren halt knapp, wie auch für uns selbst.
Bei jeder Mahlzeit zweimal täglich brauchten wir einen großen Eimer voll geschälte Kartoffeln. Dafür war unsere gute alte „Obenauern“ zuständig. In den ersten Jahren des Krieges musste jedes Schwein auf der Gemeinde-Viehwaage vor dem Hof Groh in der Langgasse gewogen und nach Gewicht der Personenzahl entsprechend abgerechnet werden. Später wurde ein Schwein pauschal angerechnet. Unsere Mutter sorgte immer dafür, dass ein besonders fettes Schwein vorhanden war, denn Fett war wertvoller als Fleisch. Für alle anderen Lebensmittel gab es Lebensmittelkarten, übrigens auch für Schuhe und Textilien.
Wir mussten auch die Wäsche aller Arbeiter waschen und flicken, immer wieder flicken, denn es gab ja nichts zu kaufen. Auch Waschmittel und Seife gab es nur auf Marken. Eine Waschmaschine gab es damals noch nicht.
Dann kam der 20. März. Wir hatten schon tage- und nächtelang fast nur im Keller logiert. Nur zur Versorgung des Viehs wagten wir uns kurz nach oben. Auch unseren alten Onkel Rudolf Zimmermann aus der Nachbarschaft (heute Anwesen Köster-Wolf) hatten wir zu uns geholt, da er ganz alleine war. Morgens rollten plötzlich amerikanische Panzer die Kirchgasse runter und direkt in unseren Hof. Am oberen und unteren Ende der Langgasse waren auf Befehl Panzersperren gebaut worden, die wohl die Amerikaner aufhalten sollten. Einer der vielen blödsinnigen Befehle, die es damals gab.
Wir kamen aus dem Keller, vor uns stand ein amerikanischer Offizier. „Wir brauchen ein großes Haus, alle Zivils muß raus“, begrüßte er uns in gebrochenem Deutsch. Da zogen wir mit unserem über 80-jährigen Zimmermann-Onkel in sein Haus und blieben dort einige Tage. Nur zum Füttern und Melken kamen wir auf den Hof. Nach etwa vier Tagen stellten wir fest, dass alle Panzer wieder verschwunden waren. Da wagten wir uns wieder ins Haus und waren überrascht, dass nichts zerstört war, nur alles war durchwühlt. Der Wimpel der Nationalsozialistischen Frauenschaft (meine Mutter war die Führerin in Albig) mit dem Hakenkreuz lag ausgebreitet auf der Couch, auch einige Hakenkreuzlampions. Nur ein Fotoapparat und ein Fernglas fehlten.
Die Aufgabe der Frauenschaft war übrigens, die Soldaten im Lazarett zu betreuen, auch warme Kleidungsstücke für das Russlandheer zu fertigen. Ich kann mich noch gut erinnern , wie wir alle Nasenschoner strickten. Die Kriegswinter waren ja auch ganz besonders kalt.
Da kam der Befehl, dass alle Waffen und Munition bei uns im Hof abgeliefert werden mussten. Ein Ami nahm sie in Empfang und schlug sie alle kaputt. Mein Vater als passionierter Jäger und Waffenexperte hatte viele Jagdgewehre, z.T. noch von seinem Vater und Großvater, die er alle ablieferte. Die Trümmer lagen nun neben dem großen Birnbaum und wurden abtransportiert in den großen Bombentrichter in unserem Acker an der Litzelwiese, heute Gewerbegebiet Erbespfad, an der tiefsten Stelle neben der Straße. Auch etliche tote Pferde und kaputte Fahrzeuge landeten dort.
Für uns war es ein Glück, daß die Amis den Weinkeller nicht fanden. Die unscheinbare Tür sah aus wie die übrigen Schuppentore. Im unteren Ort gab es etliche betrunkene, randalierende Amerikaner, die ziemlichen Schrecken verbreiteten. Von unserer Freundin Suse hörten wir, dass es auch eine Vergewaltigung gab.
Während des Krieges mussten immer wieder Bombengeschädigte, meist Frauen und Kinder aus den umliegenden Städten aufgenommen werden. Jetzt kamen noch viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten dazu, die obdachlos waren. Da kam eine Kommission, besichtigte die Häuser und beschlagnahmte einzelne Räume. Da diese ja nicht abgetrennt waren, war es nicht immer einfach und es kam natürlich auch zu Spannungen. Nachdem wir die erste, unangenehme Mieterin wieder los waren, hatten wir mit den neuen Mietern, Pfarrer Wisseler und seiner Frau ein gutes Verhältnis. Noch heute besteht eine herzliche Freundschaft mit Frau Wisseler.
Jetzt war die große Anspannung vorbei, ganz Albig hatte die Besetzung durch die Amerikaner heil überstanden und wir brauchten keine Fliegerangriffe mehr zu befürchten. Die Gefühle der einzelnen Personen waren verschieden. Mein Vater, der 1892 in der Kaiserzeit geboren, mit patriotischer Erziehung aufgewachsen und im 1. Weltkrieg Soldat im Frankreich-Feldzug war, litt sehr unter der Schmach, dass Deutschland nun vom „Feind“ besetzt war. Ich war ehrlich froh, dass dieser schlimme Krieg nun endlich vorbei war.
Unser Bürgermeister, Ludwig Hochstein, der auch Nationalsozialistischer Ortsgruppenleiter war, wurde abgesetzt und kam ins Internierungslager. Sei Vetter, Philipp Hochstein, der kein Parteimitglied war, wurde Nachfolger. Es wurden alle Einwohner registriert und wir erhielten unsere ersten Personalausweise. Ein mit uns befreundetes Mädchen, Suse Becker, die aus dem Saarland ausgewiesen war und einigermaßen englisch konnte, fungierte als Dolmetscherin auf der Bürgermeisterei. Sie erzählte uns immer, was sich so ereignete, oft auch Lustiges. Ein Beinamputierter wurde nach dem Beruf gefragt. „Ich weiß auch nicht, ich hab halt in Russland mein Bein verloren“, war die Antwort. „Da schreibe ich halt o.B.“, sagte Suse. Daraufhin der Mann: Ja, Fräulein, schreiben Sie ombediert“.
Jetzt gab es für das ganze Dorf nächtliche Ausgangssperre von 19 Uhr bis 6 Uhr früh. Die Stromversorgung war noch unterbrochen. So konnten wir auch kein Radio hören. Wir erlebten ein besonders frühes und mildes Frühlingswetter und genossen die Ruhe. Oft kamen abends Hasen die Kirchgasse runter, sie wurden ja nicht gestört. Während der Ausgangssperre unterhielten wir uns am Fenster mit den Nachbarn.
Im übrigen Deutschland ging der Krieg noch weiter, doch man konnte davon kaum etwas erfahren. Erst am 12. Mai, dem Hochzeitstag meiner Schwester Gretel mit dem schwer kriegsbeschädigten Dieter Stempel, erstrahlten abends plötzlich wieder die Lichter. Da erfuhren wir dann auch am Radio, dass der Krieg seit dem 8. Mai zu Ende war. Jetzt kamen so langsam einzelne Soldaten aus der Gefangenschaft zurück, aber längst nicht alle. Viele mussten noch jahrelang auf ihre Entlassung warten, besonders in Russland.
Im Juni kamen plötzlich Franzosen in unseren Hof und postierten mehrere schwere Geschütze, so dass man mit einem Pferdefuhrwerk nicht mehr fahren konnte. Sie bleiben eine Zeitlang und verschwanden dann wieder. Nun gehörten wir zur französischen Besatzungszone. Dadurch verschlechterte sich hier die Ernährungslage. Die Grenzen zum übrigen Deutschland waren bewacht, einen Passierschein über den Rhein in die amerikanische Besatzungszone war kaum zu bekommen. Jetzt wurden manchmal die eingelagerten Kartoffeln oder das Getreide, auch Wein beschlagnahmt, immer gab es eine neue Razzia.
Die armen Menschen in den Städten hungerten jetzt mehr als während des Krieges. Viele kamen mit dem Zug oder Fahrrad zum „hamstern“ aufs Land. Manchmal hatten sie auch etwas zum Tauschen. Man half, so gut man konnte mit ein paar Kartoffeln oder etwas Weizen, der mit der Kaffeemühle gemahlen eine Suppe ergab. Am schlimmsten waren die Jahre 1947-48 bis zur Währungsreform.
Da meine Eltern Parteigenossen waren, kamen eines Tages zwei oder drei Franzosen, gingen durchs Haus und beschlagnahmten Möbel, eine ganze Herrenzimmer-Einrichtung mit großem Bücherschrank, Schreibtisch, Polstergarnitur und Tisch, das Klavier und noch ein kleiner Bücherschrank. Sogar Kuchenformen wollten sie haben, natürlich ohne Bezahlung.
Irgendwann kam noch schriftlich ein „Entnazifizierungsbescheid“ zur Zahlung einer Geldsumme, wieviel weiß ich nicht mehr. Der Wein der im Keller lagerte, wurde 1948 kurz vor der Währungsreform beschlagnahmt und noch in Reichsmark bezahlt.
Bei der bald erfolgten Währungsumstellung (ich glaube es war am 20. Juni) von R-Mark auf DMark wurde 10:1 abgewertet. Danach gab es plötzlich wieder alles zu kaufen, doch hatte man kein Geld. Pro Person gab es 40 Mark „Kopfgeld“. Die Bankguthaben wurden erst später freigegeben, aber 10:1 abgewertet . Das war wieder eine schwierige Zeit für uns, da wir doch Löhne zahlen mussten und keinen Wein mehr hatten und auch sonst keine Vorräte.
Ein kleiner Acker mit Erbsen, die gerade reif waren und mit der Hand gepflückt werden mussten, brachte uns die ersten Einnahmen. Erst nachdem das Getreide gedroschen und verkauft werden konnte, normalisierte sich die Lage in unserem Betrieb allmählich.
Und nun begann in ganz Deutschland das sogenannte Wirtschaftswunder !